Denkschrift des Freiburger Bonhoeffer-Kreises

Um die Engländer dazu zu bewegen, in Deutschland einer neuen Regierung nach dem geplanten Sturz Hitlers Zeit zu lassen, die Verhältnisse selbst zu ordnen, hat sich Dietrich Bonhoeffer im Mai 1942 mit George Bell, dem Bischof von Chichester, in der kirchlichen Akademie Sigtuna in Schweden getroffen. Am 9. Oktober 1942 suchte Bonhoeffer Constantin von Dietze und Erik Wolf in Freiburg auf und bat die Wissenschaftler im Auftrag der "Vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche" um eine Programmschrift, “in der womöglich alle Hauptzweige des öffentlichen Lebens unter den Gesichtspunkten christlicher Sozialethik behandelt werden sollten.”

Ein konspirativ tagender Arbeitsausschuss, dem zunächst nur die Freiburger Nationalökonomen Constantin von Dietze, Walter Eucken und Adolf Lampe sowie der Historiker Gerhard Ritter angehörten, bereitete diese Programmschrift unverzüglich vor. Der Haupttext wurde von Gerhard Ritter ausgearbeitet; der für die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft belangreiche Anhang 4 (Wirtschaft- und Sozialordnung) wurde von den drei Nationalökonomen gemeinsam formuliert. Der Anhang 1 (Rechtsordnung) wurde von den Freiburger Juristen Franz Böhm und Erik Wolf erarbeitet. Nachdem von Dietze zweimal zu einer Vorbesprechung des Entwurfs der Denkschrift mit Bonhoeffer in Berlin zusammengetroffen war, fand bereits vom 17. bis 19. November 1942 im Hause der Familie von Dietze in Freiburg eine dreitägige Geheimtagung statt, 

auf der der Hauptteil der Denkschrift sowie die beiden bereits vorliegenden Anhänge beraten wurden. Neben den Freiburger Wissenschaftlern haben an dieser Geheimtagung folgende Personen teilgenommen: Carl Goerdeler, der frühere Leipziger Oberbürgermeister und Organisator des zivilen Widerstandes, Otto Dibelius, Generalsuperintendent der Kurmark und Vorsitzender des Rates der EKD von 1949 bis 1961, der evangelische Theologe Helmut Thielicke im Auftrag des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm, dem ersten Vorsitzenden des Rates der EKD von 1945 bis 1949, sowie als Fachmann und Vertreter der "Vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche" der evangelische Unternehmer Walter Bauer.

Als Ergebnis dieser konspirativen Beratungen wurden die Entwürfe überarbeitet sowie weitere ergänzende Anhänge in Auftrag gegeben. Nachdem in allen wesentlichen Punkten Übereinstimmung erzielt war, wurden die Arbeiten an der Denkschrift "Politische Gemeinschaftsordnung - Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit" im Januar 1943 abgeschlossen. Das Typoskript mit allen nachträglichen Änderungen und Ergänzungen wurde von Gerhard Ritter auf dem Hierahof in Saig im Hochschwarzwald versteckt.

Das gescheiterte Attentat am 20. Juli 1944 löste eine umfassende Verfolgungswelle gegen die Mitglieder und das Umfeld des bürgerlichen und des militärischen Widerstands aus. Von der Kerngruppe des Freiburger Kreises wurden Constantin von Dietze, Adolf Lampe und Gerhard Ritter verhaftet. Gegen Walter Bauer und Constantin von Dietze wurde noch am 9. April 1945 vor dem Volksgerichtshof Anklage wegen Hoch- und Landesverrats erhoben, doch wurden sie wenige Tage vor Kriegsende befreit. Im Juli 1945 hat Gerhard Ritter die Denkschrift im Namen des Mitarbeiterkreises in Freiburg veröffentlicht.

2015AEU_FD70.pdf
pdf 367.19 KB