Der evangelischen Kirche fehlt es an strategischem Denken und Reformfreude. Das beklagt der Vorsitzende des Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer (AEU). Mit ihm sprach Karsten Huhn.
Verwalter gibt es in der Kirche reichlich, aber wo gibt es Visionäre? Interview mit Dr. Peter Barrenstein
idea: Herr Barrenstein, die evangelische Kirche befindet sich in der Krise. Was würde McKinsey tun?
Barrenstein: Wir würden mit einer detaillierten Ist-Analyse starten und die dafür nötigen Daten erheben. Danach würden wir Ziele für eine Kirche im Jahr 2050 aufstellen und prüfen, welche Maßnahmen dafür nötig sind – diese Maßnahmen würden wahrscheinlich sehr schmerzhaft sein.
Wie fällt Ihre Ist-Analyse aus?
Es ist klar, dass die Kirchensteuereinnahmen in nicht allzu ferner Zeit wegbrechen. Zwar gab es 2019 mit fast sechs Milliarden Euro ein Rekordhoch, doch dies wird aufgrund des Mitgliederschwunds nicht ewig anhalten. Die Kirche verliert jedes Jahr fast 250.000 Menschen. Das finde ich wirklich beunruhigend. Und dass sich die Mitgliederzahlen der beiden Volkskirchen laut der Freiburger Studie bis 2060 halbieren werden, ist doch ein Horrorszenario! Es brennt also, aber wenn ich mir die Friedhofsruhe in den Kirchen anschaue, passt das für mich nicht zusammen.
Viele Mitarbeiter in der Kirche sagen sich: „Für meine Rente reicht’s noch!“
Das wäre fatal. Die Kirche lebt leider oft in einer Blase. Wenn ich den Pfarrer meiner Gemeinde nehme: Er erreicht eine Kerngemeinde von etwa 5 % der Mitglieder. Die sind mit ihrem Pfarrer und seinen Gottesdiensten sehr zufrieden. Aber was ist mit den anderen 95 %? Und mit den Menschen, die keine Kirchenmitglieder sind? Ich selbst schließe mich da nicht aus: Ich empfinde die Predigten oft als Katastrophe, und irgendwann hat man keine Lust mehr hinzugehen. Aber die Kirche ist mit sich selbst zufrieden. Das geht bis zum EKD-Ratsvorsitzenden: Heinrich Bedford-Strohm ist total begeistert von der Digitalisierung der Kirche, die die Corona-Krise mit sich gebracht hat. Die virtuellen Gottesdienste haben auch eine Weile funktioniert, aber inzwischen gehen die Zahlen runter, und viele Menschen verzichten ganz auf den Gottesdienstbesuch.
Ihre Analyse macht traurig. Gibt es auch etwas Positives?
Es gibt Inseln, also einzelne Gemeinden oder Angebote, die erfolgreich sind. Hier müsste man sich genau anschauen, was diese anders oder besser machen. Ein Beispiel ist für mich die Berliner Stadtmission: Ihr gelingt es, Kirche und Diakonie zu verknüpfen. Ihre Angebote in Gemeinden, Bahnhofsmission und Kältehilfe sind gesellschaftlich sehr anerkannt. Solche Modelle brauchen wir. Die Anerkennung der verfassten Kirche ist inzwischen an vielen Stellen schlecht …
… schlecht? Die Kirchen betonen doch stets, wie wichtig sie für die Gesellschaft seien.
Die Austrittszahlen belegen doch das Gegenteil! Und jetzt kommt noch die total bekloppte Idee, die Kirchensteuer zu reduzieren, in der Hoffnung, dass die jungen Mitglieder dann dabeibleiben.
ist das bekloppt?
Die Kirche versucht hier, ihre Probleme mit Preispolitik zu lösen. Das kann nicht funktionieren. Es hat keinen Sinn, die Preise zu senken, wenn die Qualität des Angebots nicht stimmt. Wenn ich ein tolles Angebot hätte, wären die Menschen auch bereit, den Preis dafür zu bezahlen. Denn die Kirchensteuerbeträge sind häufig doch recht überschaubar.
Peter Barrenstein (69) ist Vorsitzender des Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer (AEU) in Deutschland. Von 1980 bis 2007 war er Senior Partner bei der Unternehmensberatung McKinsey. Barrenstein gehörte zwölf Jahre der EKD-Synode an und war am Reformprozess „Kirche der Freiheit“ beteiligt. Er war Beauftragter des Rates der EKD für das Thema Führen und Leiten und ist Aufsichtsrat der Führungsakademie für Kirche und Diakonie. Barrenstein ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.
“Dass sich die Mitgliederzahlen der Volkskirchen bis 2060 halbieren werden, ist doch ein Horrorszenario! Es brennt also, aber wenn ich mir die Friedhofsruhe in den Kirchen anschaue, passt das für mich nicht zusammen.”
-Peter Barrenstein
Was empfehlen Sie einem Unternehmen, dass jährlich etwa 2 % seiner Kunden verliert?
Man muss nach innen schauen und überlegen, wie die Qualität der Angebote verbessert werden kann und nach außen, um neue Zielgruppen zu gewinnen. Unsere Gesellschaft ist sehr divers, also braucht es auch eine Vielzahl unterschiedlicher Angebote. Derzeit erreicht die Kirche aber viele Gruppen nur noch wenig oder gar nicht. Ich durfte ja am Reformpapier „Kirche der Freiheit“ mitarbeiten, das vom damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber vorangetrieben wurde. Er hatte beispielsweise die Vision, auch die Eliten des Landes zu erreichen: Wissenschaftler, Unternehmer, Politiker, Künstler und Sportler. Die wollte er auch als Meinungsführer gewinnen. Mit dem Weggang von Huber ist diese Idee dann leider gestorben.
Das Reformprogramm wurde pulverisiert – von den damaligen Zielen hat sich die evangelische Kirche längst verabschiedet.
Wir haben hier ein grundsätzliches strukturelles Problem: Es gibt in der Kirche keine kontinuierliche Führung. Hubers Nachfolger legten das Programm einfach zur Seite. Jeder will eben seinen eigenen Stempel setzen.
Heinrich Bedford-Strohm hat bei Wolfgang Huber promoviert und steht theologisch in dessen Nachfolge.
Das mag sein. Aber warum bringt er sein Zukunftspapier erst gegen Ende seiner Legislaturperiode heraus? Das Papier wird jetzt in einer Synode diskutiert, die ihre letzte Sitzung hat. In einem Jahr tritt eine neue Synode zusammen, und es wird ein neuer Ratsvorsitzender gewählt. Ich sehe keine Strategie dahinter. Ein Zukunftspapier gehört an den Anfang einer Leitungszeit.
Ist es eine verlorene Ratsperiode?
In diesem Punkt ja. An anderen Stellen hat Bedford-Strohm deutliche Zeichen gesetzt: Er steht für Hilfe für Flüchtlinge, den Kampf gegen den Klimawandel und für Ökumene.
Und er hat beim Kirchentag mit Angela Merkel und Barack Obama vor dem Brandenburger Tor gesprochen.
Toll! Wissen Sie, in der Wirtschaft unterscheiden wir bei Führungspersönlichkeiten zwischen dem Manager oder Verwalter und dem Visionär. Verwalter gibt es in der Kirche reichlich, aber wo gibt es Visionäre?
Der Ratsvorsitzende ist doch bienenfleißig und ständig im Land unterwegs.
Er ist sehr aufrichtig und ehrlich, hoch engagiert und begeisterungsfähig. Wenn man mit ihm zusammensitzt, geht man danach glücklich raus. Ich sage auch nicht, dass Heinrich Bedford-Strohm einen schlechten Job gemacht hat. Aber wenn ich danach frage, welche Impulse er für die Zukunft der Kirche gegeben hat, fällt mir nicht viel ein. Wolfgang Huber war der einzige, der es zumindest versucht hat. Leider ist es ihm nicht gelungen, auch die Basis zu überzeugen.
Welche Vision empfehlen Sie dem nächsten Ratsvorsitzenden?
Er sollte verschiedene Bilder der Kirche in 20, 30 Jahren zeichnen. Intern würde ich die Rolle der Landeskirchen prinzipiell hinterfragen. Ich weiß, dass das, was ich jetzt frage, böse erscheint: Was ist eigentlich der Mehrwert von Landeskirchen? Wofür braucht man sie überhaupt? Vielleicht braucht man von ihnen noch vier oder sechs – aber ganz sicher nicht 20. Und was ist eigentlich die Rolle von Synoden?
Ich kann Ihnen sagen, wozu es Synoden braucht: Man trifft sich, um über den gerechten Frieden, ein solidarisches Europa, den Klimaschutz oder Flüchtlingspolitik nachzudenken …
… fehlt nur noch das Tempolimit auf Autobahnen. Ich war zwölf Jahre Mitglied der EKD-Synode. Die wirkliche Funktion der Synode ist die Wahl des Rates und des Ratsvorsitzenden. Auch ein Haushalt wird beschlossen. Aber die etwa 220 Millionen Euro sind angesichts von 12 Milliarden Euro Gesamthaushalt der Kirche nicht wirklich relevant. Ich fordere jetzt nicht: Synoden abschaffen! Ich sage nur: Die Rolle der Synode ist verbesserungsfähig. Sie sollte sich viel mehr damit beschäftigen, wie das evangelische Profil geschärft werden kann und wie die Kirche die Menschen wieder erreicht. Was ist der Mehrwert, den die Kirchen bieten? Was unterscheidet ein evangelisches Gymnasium, Seniorenheim oder Krankenhaus von anderen Anbietern? Unterscheiden wir uns deutlich oder können das, was wir tun, genauso gut auch andere machen? Wenn das christliche Element nicht erkennbar ist, sollten wir es besser gleich lassen.
Ihre Ideen sind 2006 scharf kritisiert worden. Zum Beispiel die Verringerung der Landeskirchen. Durch Fusionen entstehen kaum Synergieeffekte. Stattdessen sind die Kirchen jahrelang damit beschäftigt, sich darüber zu streiten, wer was bekommt und wo dann das gemeinsame Landeskirchenamt stehen soll.
Deshalb empfehle ich, mal ins Jahr 2050 zu springen und von dort die Zukunft zurückzurollen: Wie viele Landeskirchen und Kirchenämter werden dann noch gebraucht? Angenommen, es wären 6: Wie viele sollten es dann im Jahr 2040 sein? Und wie viele im Jahr 2030? Dann wird die Notwendigkeit von Strukturveränderungen klarer. Es ist immer noch schwer, aber unumgänglich. Die jetzigen Verwaltungskosten sind nicht zu rechtfertigen. Diese Gelder würde ich viel lieber in innovative Projekte stecken oder in Pfarrer, die vor Ort in der Gemeinde arbeiten. Die größte Bindung an die Kirche geschieht nun mal durch den Pfarrer. Wenn er mich kennt, steigt die Chance, dass ich in der Kirche drinbleibe. Das können Sie sich leicht ausrechnen: Vereinfacht gesagt, haben wir 20 Millionen Mitglieder und 20.000 Pfarrer. Auf einen Pfarrer entfallen also 1.000 Mitglieder. Wenn er jeden Tag einen Hausbesuch machen würde, bräuchte er drei Jahre, bis er jedes Mitglied einmal besucht hätte. Um das zu schaffen, braucht er also viele motivierte Ehrenamtliche, die ihn dabei unterstützen. Meine These ist: Durch mehr Kundenkontakt entsteht Kundenbindung.
Sie wollen Pfarrer sogar nach Leistung bezahlen. Für viele ist diese Vorstellung ein Gräuel.
Ich glaube nicht, dass das wirklich wichtig ist. Es würde voraussetzen, dass Geld der Hauptmotivator für Pfarrer ist. Der typische Pfarrer tickt aber nicht so, sonst hätten er oder sie einen anderen Beruf ergriffen. Bei McKinsey arbeiten beispielsweise Theologen, die auch wegen des besseren Verdienstes in die Unternehmensberatung gegangen sind. Für die meisten Pfarrer ist das aber nicht der Hauptantrieb. Pfarrer sollten gut bezahlt werden – und das werden sie auch. Aber stimmt die Relation zwischen Verdienst und Arbeitszeit? Da habe ich so meine Zweifel.
In „Kirche der Freiheit“ sprachen Sie sich auch dafür aus, die „Taufquote“ und den Gottesdienstbesuch zu erheben. Kritiker fürchteten damals eine „McKinseyisierung der Kirche“.
Wenn ich ein Ziel nicht quantifiziere, werde ich es nie erreichen. Die meisten Ziele in der Kirche lassen sich mit Zahlen ausdrücken. Die Kirche scheut das aber wie den Teufel – von dem sie allerdings auch nicht mehr redet. Die Kirche hat eine unglaubliche Angst vor Quantifizierung. In den elf Leitsätzen gibt es so gut wie keine. Man postuliert: Wir wollen frömmer werden. Aber wie misst man das? Wie fromm ist die Kirche denn heute? Und wie kann sie sich ändern? Um das operativ zu machen, könnte man zum Beispiel erfassen: Von den 50 Statements, die der Ratsvorsitzende im Monat abgibt, sind x Prozent in der Kategorie fromm und y Prozent in der Kategorie gesellschaftspolitisch. Zu denken, die kirchlichen Führungskräfte würden jetzt ihr Verhalten wirklich ändern, nur weil die Synode elf Leitsätze verabschiedet, halte ich für naiv.
Ich gehe jede Wette ein, dass die EKD Ihre Leitsätze ohne Zahlen beschließt.
Doch, eine Zahl steht schon drin: Man will 15 % der Verwaltungskosten einsparen. Aber 15 % sind einfach lächerlich! Wenn künftig die Hälfte der Kirchenmitglieder nicht mehr da ist, gehe ich davon aus, dass sich die Steuereinnahmen auch halbieren werden.
Langfristig mag das gelten. Kurzfristig erleben wir jedoch die wundersame Kirchensteuervermehrung – wenn die Corona-Krise überstanden ist, sollen die Einnahmen in den nächsten Jahren in etwa stabil bleiben.
Das ist gruselig!
“Es ist schon merkwürdig: Die Kirche, die selbst aus einer Reformation hervorgegangen ist, ist heute so reformunfähig. Als Gründe sehe ich ein fehlendes Problembewusstsein sowie egoistisches Machtinteresse.”
-Peter Barrenstein
Warum?
Weil dann kein Handlungsdruck besteht. Es wäre auch falsch, das eigene Leistungsspektrum proportional zu den künftig sinkenden Einnahmen zu verringern. Sinnvoller ist es, einzelne Bereiche, die nicht zum Kerngeschäft gehören, ganz zu streichen.
Warum tut sich die Kirche mit Veränderungen so schwer?
Es ist schon merkwürdig: Die Kirche, die selbst aus einer Reformation hervorgegangen ist, ist heute so reformunfähig. Als Gründe sehe ich ein fehlendes Problembewusstsein sowie egoistisches Machtinteresse.
Dem Publizisten Christian Nürnberger sind Unternehmensberater in der Kirche ein Dorn im Auge. Er sagt: „Wer Kirche als eine Nonprofit-Organisation unter anderen begreift und sie auf den Marktplatz schubst, verlässt den Boden des Evangeliums, degradiert dieses zur Ware (…) Kirchenleitungen, welche die Existenz der Kirche dadurch sichern wollen, dass sie ihre Kirche als Nützlichkeits-Organisation etablieren, als Serviceund Sinnvermittlungsagentur, als Unternehmen, dessen Wert in ihrer Funktionalität für einzelne, Gemeinschaften und Staaten liegt, ziehen den Karren nicht aus dem Dreck, sondern fahren ihn noch tiefer hinein.“
Für Herrn Nürnberger bin ich die Verkörperung des Bösen. Ich widerspreche ihm aber, denn er lebt in einer Wunschwelt. Die Kirche befindet sich auf einem Markt und steht im Wettbewerb mit anderen Anbietern. Die Kirche muss um die Zeit und Aufmerksamkeit der Menschen buhlen. Wir müssen sie vom christlichen Glauben überzeugen. Bei manchen Pfarrern reduziert sich aber der Glaube auf Regularien und Äußerlichkeiten. Ich vermisse, dass nicht mehr von Hoffnung, Glauben und sich in der Kraft Gottes geborgen wissen die Rede ist. Erstaunlich finde ich auch die Vehemenz, mit der viele Theologen es verneinen, dass das Coronavirus etwas mit Gott zu tun habe. Woher weiß man das? Vielleicht will Gott uns ein Zeichen setzen, um aufzuwachen und etwas – beispielsweise beim Klima- und Artenschutz – anders zu machen.
Sie sind Vorsitzender des Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer. In der Kirche sind Unternehmer als Steuerzahler und Mäzene gefragt, ansonsten stehen sie oft unter dem Verdacht, ausbeuterische Kapitalisten zu sein.
An der Basis ist das aus großer Unkenntnis noch oft so, bei den Kirchenleitenden wird häufig nicht mehr so gedacht. Die Anerkennung für Unternehmer ist deutlich gewachsen. Die Mehrheit verhält sich gesellschaftsverträglich – schon aus Eigeninteresse heraus. Den bösen Kapitalisten gibt es in Deutschland eigentlich nicht mehr, weil er auf Dauer keinen Erfolg haben könnte. Wer seine Mitarbeiter oder die Umwelt schlecht behandelt, würde gebrandmarkt und zum Rücktritt gezwungen.
Wirtschaftsskandale gibt es doch immer wieder, zuletzt etwa beim Zahlungsdienstleister Wirecard.
Da waren Betrüger am Werk, genauso wie beim Dieselskandal bei VW. Das war kriminell und muss bestraft werden. Solche Vorfälle prägen leider unser Bild, sie sind aber die Ausnahme. Der typische Unternehmer macht für die Gesellschaft einen positiven Unterschied.
Was würde in der Kirche anders laufen, wenn sie von einem Unternehmer geführt würde?
Das würde ich mir nicht wünschen. Die oberste Leitung sollte ein Theologe haben. Was ich mir aber vorstellen könnte, ist eine Doppelspitze wie in der Berliner Stadtmission: Dort gibt es einen Theologen und einen Kaufmann. Das finde ich eine gute Kombination. Mehr wirtschaftlicher Sachverstand und strategisches Denken würden der Kirche guttun.
Vielen Dank für das Gespräch!